Mittwoch, 30. Mai 2012

Buchgedanken I


There are many things that make a book an antiquarian book, not just the text. Some will point to typography, others will mention the binding, others again the former owner, if famous or important, or an interesting inscription. I am fond of these things as well. But I also like the imperfect, the slightly ramshackle, the signs of wear and tear - of life, in fact. In the many years that I’ve been dealing with antiquarian books, I must have seen every state of a book, from immaculate to conditions that could only be of interest to a necrophile. Bur, with each book I handle, I ask myself: Why? What is the story behind this stain, these scorch marks, this musty smell?

Es gibt so mancherlei, was neben dem Inhalt ein Buch ausmacht. Mancher wird auf die Typographie hinweisen, andere die Einbände erwähnen, wieder andere interessante oder hochbedeutende Provenienzen. Wie gesagt, es gibt so manches, das ein Buch zu einem nicht nur intellektuellen, sondern sinnlichen Erlebnis macht.

Ich schätze die oben angeführten Dinge und Zustände auch. Aber – ich bin auch ein Ferund des Unvollkommenen, des leicht Maroden, des etwas Angestoßenen, des Lebens eben. In den vielen Jahren, in denen ich schon Antiquar bin, habe ich wahrscheinlich Bücher in jedem erdenklichen Zustand gesehen, von verlagsfrisch bis zu Fällen, die eigentlich nur noch einen Nekrophilen interessieren können.

Aber bei jedem dieser Bücher frage ich mich: Warum? Was ist die Geschichte hinter diesem Fleck, dieser Brandspur, diesem Modergeruch?

Dieses Exemplar von Humboldts Kosmos, schön in goldgeprägtem Leder, Goldschnitt, alles was dazu gehört, warum klebt der Schnitt zusammen? Der Einband hat doch damals sicher Einiges gekostet, warum hat der neue Besitzer es nicht wenigsten einmal über den Daumen laufen lassen? Diese Freude habe nun ich und höre dieses einmalige Geräusch, wenn die Seiten sich voneinander lösen.

Oder dieser Band aus der Schwabeschen Reihe: Wer hat mit so viel Freude darin gelesen, dass in fast jeder Lage ein paar Tabakfasern liegen und er mit winzigen Brandlöchlein besprenkelt ist? Da hat wohl jemand wirklich geschmökert, vielleicht in seinem Lehnstuhl sitzend, und von fernen Ländern träumend.

Eine kleine Reihe indischer Erotika, die ich einst kaufte, in lila Saffianleder gebunden, roch betörend nach Patschuli-Räucherstäbchen. Was haben diese Bücher erlebt? Vielleicht nur die Phantasien eines einsamen junge Mannes, oder eines verträumten Mädchens.

Und wer legte die Photographie eines nackten Mädchens, das sich die Zähne putzt,in Band 3 von Barths Reisen in Afrika? War es da besonders sicher vor den spähenden Augen einer Mutter oder einer Ehefrau? Der arme Mann ... Was hat es mit dem Photo eines Mannes, bestimmt ein Engländer, auf sich, der mit Tropenhelm „pith helmet“ und Leinenanzug bekleidet, ein Krokodil an der Leine führt?

Wenn Bücher über die Conquista tapfer nach Zigarre riechen, dann ist das immerhin stimmig. Aber müssen sie gar so stinken? Ich war genötigt, die seltene Bemerkung: „Riechen stark nach Brazil-Zigarren“ in meine Buchbeschreibung aufzunehmen.

Warum lag ein Buch (ich erinnere mich nicht mehr an den Inhalt, es hatte aber nichts mit Numismatik zu tun) voller Geldscheine? Keine gültigen, leider, sonder alte türkische, spanische, venezulanische und sogar tibetische Noten. Und alle waren mit Klebefolie bedeckt. Warum?

Dass Folianten eher wasserfleckig sind als Bücher mit verträglicherem Format, ist ja kein Wunder. Sie stehen, oder liegen, neben dem Regal auf dem Fußboden. Ein umgestoßener Eimer, ein offenes Fenster bei Regen, und das Unheil ist geschehen. Wie aber war die Reaktion des Besitzers? Hat er gefasst geschwiegen und leise gelitten? Hat er geschimpft und geschrien, die Putzfrau entlassen und die Ehefrau verprügelt? Oder andersrum? Ich weiß es nicht.

Warum aus dem Einband eines in festes Leder gebundenen Barockwerkes ein paar Sohlen herausgeschnitten sind, ist ja nachvollziehbar. Einlegesohlen. Doch wer benutzt einen Bücherrücken zum Einschlagen von Nägeln? Anders kann man die schrecklichen Spuren nicht deuten.

Zurück zu den Beilagen. Einmal fand ich ein rührendes Testament in einer wissenschaftlichen Reihe. Der Verblichene wollte auf einem Teppich liegend begraben werden, den seine Geliebte für ihn geknüpft hatte. Ich habe es natürlich zurückgeschickt, hoffentlich noch rechtzeitig. Die wirklich deftigen Liebesbriefe allerdings, die ein Archäologie-Professor von einer Studentin erhalten hatte, die habe ich dann doch der trauernden Witwe erspart.

Großartig und oft seltsam sind auch Widmungen. „Horridoh und fette Beute“ wünschte 1940 eine Grete einem ungenannten Flieger. War ihr 1945 immer noch nach Horridoh? Lebte der Flieger da überhaupt noch? Wer war Tante Ludmilla, die ihrem lieben Neffen zum Wiegenfeste ein Buch über die Erstbesteigung des Kilimandscharo schenkte? War der Neffe (Hans) ein besonders abenteuerlustiger Knabe oder eher ein Duckmäuser, der zu großen Taten angestachelt werden musste?

Und der Mann, der in großen roten Buchstaben in Hedins Transhimalaja schrieb: „Dieses Buch darf nie verkauft werden. Wenn Sie es gekauft haben, so ist es gestohlen worden.“ – Glaubte er wirklich, das Schicksal überlisten zu können? Ich will gar nicht auf die vielen Stempel, Namenseinträge, Exlibris und andere Versuche, ein Buch als ein Eigentum zu kennzeichnen, eingehen. Sie haben alle, alle nichts genutzt.

Es gilt: Habent sua fata, libelli. Und nichts ist unterhaltsamer, seltsamer, heiterer und melacholisch stimmender, als über diese Schicksale zu träumen ...

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